Asphaltparty

Es ist schon fast eine Tradition: Zur Eröffnung der (Straßen-)Saison geht’s im Frühjahr nach Berlin zum Halbmarathon. Ganz am Anfang meines Läuferlebens war das Heimspiel für mich und es war immer so überraschend warm, dass die meisten in ihren Thermoklamotten in der Frühjahrssonne spätestens auf dem Ku’damm gebraten wurden. Früher. Früher war irgendwie alles anders. Die Pandemie hat viel verändert. Irgendwie auch das Wetter beim Berliner Halbmarathon. 2022, bei der ersten Post-Corona-Edition, standen wir bei knapp 4 Grad bibbernd im Startblock und zur Krönung rieselte es statt Konfetti Schnee. Dieses Jahr sollte es nicht viel anders werden.

Bei meiner Anreise am Donnerstag noch 17 Grad und Sonne, abends Gewitter und quasi Weltuntergang, ist es am Freitag zur Abholung der Startunterlagen immer noch relativ mild, aber schon kühler. Die Ausgabe gut organisiert, eine Sache von Minuten. Bei der 8. Teilnahme kennt man eh schon alles auswendig, Änderungen gibt’s ja wenige. Die Laufmesse ist auch nicht mehr das, was sie mal war und ziemlich geschrumpft, das eigene Ausrüstungsrepertoire gleichzeitig inzwischen derart üppig, dass man außer vielleicht etwas Läufernahrung eigentlich nichts mehr braucht. Also kurzes Schwätzchen unter Bekannten, kurzer Fanmoment mit Philip Pflieger, der hier seine Laufkarriere beenden wird, schneller Kaffee am Tempelhofer Feld und weg.

Der Samstag deutlich kälter und total verregnet lässt manche nervös werden, das Auf und Ab des Wetters in den letzten Tagen erschwert die Klamottenauswahl. Ich beschließe, beim Outfit Copy+Paste zu machen, schließlich sind für den Veranstaltungstag mit 4–7 Grad und kaltem Wind fast die gleichen Bedingungen wie im Vorjahr gemeldet. Mit einer Ausnahme: Als Sonntagmorgen die Sonne scheint, gehe ich das Risiko ein und nehme die getönte Laufbrille mit. Böses Omen, denke ich mir noch, aber was soll’s. Risiko insbesondere, weil ich keinen Beutel mitnehme, den man bei der Garderobe abgeben kann. Heißt also egal wie mit Brille laufen – auf der Nase oder notfalls auf dem Kopf. Statt Beutelabgabe setze ich wieder ganz auf die Altkleiderspende, die sich inzwischen etabliert hat und für die extra Sammeltonnen im Startbereich bereitstehen. In alter Jogginghose und ausgeleiertem Sweatshirt fällt man in dieser Stadt ohnehin nicht großartig auf, Berlin-Style eben.

Als ich am Brandenburger Tor aus der S-Bahn steige, bin ich froh um die zehn Minuten Puffer, die ich kalkuliert habe. Denn es ist voll, viel voller als im Vorjahr. Die Pandemie ist wohl endgültig vorbei. Umso besser, dass ich nicht mehr zur Beutel-Abgabe muss, so kann ich mich direkt Richtung Startblock begeben – umgeben von einem Menschenstrom in Funktionsklamotten. Irgendwie dauert es doch länger als gedacht bis ich vorne bei meinem Startblock bin. Schnell aus den Spendenklamotten raus, Schuhe ordentlich geschnürt und ab in den Startblock. Eigentlich wollte ich mich hier noch mit Freundinnen treffen, aber gerade als ich schreibe, wo ich stehe, startet der Profiblock und unser Block muss aufrücken. Ok, viel Spaß, das mit dem Treffen wird hier nix mehr.

Wenige Minuten später fällt auch schon der Startschuss für die zweite Startwelle, in der mein Startblock ist, und es geht über die Startlinie. Alles auf Start. Zukunft Pink, dröhnt es aus den Boxen. Die Masse setzt sich überraschend dynamisch in Bewegung und ich lasse mich mitreißen Richtung Siegessäule. Als es rechts zum Schloss Charlottenburg leicht hinaufgeht, muss ich schmunzeln: zu meinen Berlin-Zeiten war das ein Berg für mich, inzwischen – mit ordentlich Trail-Erfahrung – ist es nicht mal ein Hügel. Vorm Schloss heizt die Trommelgruppe ein, ein Vorgeschmack auf das, was uns auf den nächsten Kilometern Richtung bzw. auf dem Ku’damm erwartet.

Das Wetter ist zwar sehr kühl, aber trocken und ich bin bei dem eher grellen Licht froh über meine getönte Brille. Die Bürgersteige füllen sich, Publikum da, Stimmung da, Straßenparty olé. Zwischen Schloss und Ku’damm der erste Part Kopfsteinpflaster, der mir ziemlich reinhaut, spätestens als ich Richtung Potsdamer Platz abbiege, habe ich genug von Asphalt und vermisse „meine“ Trails. Hilft jetzt aber nix, also bei km 15 Stimmung, Gel und Wasser einsaugen und weiter geht’s. Dank Asphalt und nicht zuletzt auch Dank eiskaltem Gegenwind in den Häuserschluchten wird es nun etwas zäher. Und hier willst Du im Herbst wieder Marathon laufen, schüttele ich innerlich den Kopf über mich selbst. Aber mit meiner Langstrecken-Erfahrung wär’s auch irgendwie popelig, auf lediglich sieben verbleibenden Kilometern zu viele negative Gedanken zuzulassen, sage ich mir und reiße mich zusammen.

Den verbleibenden Abschnitt nach dem Leipziger Platz mag ich nicht so ganz, aber muss immer irgendwie. Nochmal kräftig Stimmung mitnehmen und dann bis Gendarmenmarkt zusammenreißen. Gelingt mir so halbwegs, bei km 18 nehme ich etwas Tempo raus und schnappe nochmal kurz ein paar Schlückchen Tee. Am Gendarmenmarkt dann endlich wieder ordentliche Musikkulisse. Mittlerweile merke ich den Asphalt ganz schön in den Beinen und Knien, aber spätestens, wenn man auf Unter den Linden abbiegt, ist eh (fast) jeder Schmerz vergessen: Es ist einfach nur noch laut, Musik, Trommeln, Cheerleader, die Menge schreit Deinen Namen, Brandenburger Tor, Lächeln für den Fotografen, Zielbogen. Fertig.

Ach so, war’s das etwa schon, wundere ich mich. Nur 21,1 km. Es reicht, sagt mein Körper zum Asphalt. Ich schnappe mir die (dieses Jahr wirklich sehr schöne) Medaille, die Wärmefolie, ein Bier und eine Banane und begebe mich auf direktem Weg zum Ausgang am Reichstag, wo meine Freundin mit Wechselklamotten auf mich wartet.

Früher, da lagen wir erst mal faul auf dem Rasen vorm Reichstag und ließen uns in der Sonne trocknen, danach gab’s ne Riesenportion Eis mit Sahne und irgendwann am späten Nachmittag ging es nach Hause. Bei den heutigen Rahmenbedingungen ist mir nach Pizza, warmem Tee und heißer Dusche. Und zwar jetzt sofort, also nix wie heim.

Berliner Halbmarathon 2023: Es war mir wie immer ein Erlebnis und Vergnügen! Aber ich bin sehr froh, wieder auf „meine“ Trails zurückzukehren. Um mich da bis zur nächsten Asphaltparty beim Berlin Marathon im Herbst zu erholen…

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